Zu viel? Zu wenig? Nee: genug.
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Seit gestern ist mein eigenes Projekt am Start: Klassenarbeit. Damit will ich Klassismus / klassistische Mechanismen in der Gesellschaft durch Geschichten und Erzählungen, ergo: alltagsnah, beleuchten. Und mir Gäst*innen reinholen, die aus ihrem Blickwinkel das Thema beleuchten, über ihre Arbeit erzählen und auch über ihren eigenen Weg sprechen.
Mehr Infos gibt's hier: klassenarbeit.info
Es ist halb Blog, halb Podcast. Aber 💯% journalistisches Produkt und Herzensprojekt.
Ich hatte diese Idee schon vor zwei Jahren. Aber ich habe mir nicht vertraut, das selbst machen zu können. Imposter Syndrom lässt grüßen: Bist du überhaupt Journalistin? Und was maßt du dir an, dass man DIR, während es so viele Expert*innen zu dem Thema gibt, zuhört?
Dabei sind wir alle aus Arbeiter*innenfamilien Expert*innen dafür. Und da wurzelt auch das Imposter Syndrom.
Ich wollte schon immer Journalistin werden, classic origin story. Aber beinahe wäre ich den Weg nicht gegangen:
➡️ Für Praktika brauchst du am besten journalistische Vorerfahrung. Uhm, ok?
➡️ Wir bezahlen Praktika übrigens nicht - oder nur im niedrigen dreistelligen Bereich bei 40h/Monat. Pflichtpraktika-Regelung lässt grüßen.
➡️ Du hast nicht genug Erfahrung. Sorry, dass ich nicht schon mit 13 angefangen habe und direkt alles konnte…
➡️ Du hast zu viel Erfahrung. Für Mentoringships, wohlgemerkt.
➡️ Du brauchst ein Volontariat oder Ausbildung an einer Journalist*innenschule. Wo auf 1 Platz Bewerber*innen in dreistelliger Höhe kommen.
➡️ Für den Beitrag zahlen wir dir ’n Appel und ’n Ei. Selbsterklärend.
Okay, hä?
Ich habe mich dann als freie Journalistin verdingt, und das alles andere als freiwillig: Festanstellungen sind rar gesät, bei Bewerbungen hagelte es Absagen (wenn überhaupt mal eine Antwort kam), das unsägliche Konzept der „festen Freien“ hat mich straight in eine Klinik befördert (und die Redaktion mich im Anschluss geghostet).
On top: finanzielle Schieflage, weil nicht angestellt und damit kein Krankengeld und damit Verdienstausfall ohne Ende.
Die prekären Bedingungen kratzen hart an den psychischen Kapazitäten. Tut es immer noch. So viele tolle und engagierte Kolleg*innen haben das Handtuch geschmissen und sind in andere Branchen gegangen. Dabei sind es genau die Talente, die der Nachwuchsjournalismus braucht.
Dass die Bubble in Sachen Nachwuchs ein Problem hat, ist zum Glück den meisten klar geworden. Es ist Thema von Vorträgen, Panels, Konferenzen. Ich habe viele besucht. Und ich kann’s nicht mehr hören:
Wir brauchen mehr Diversität! Mehr mit Migrationsbiografie, mehr aus anderen sozialen Herkünften! Warum kommen die Leute nicht?
Geld.
Geld und deren Verteilung ist das Problem.
Und wer nicht die Ressourcen hat und Raubbau an sich selbst betreibt, geht auch nicht in den Journalismus – egal, wie sehr es der Kindheitswunsch war.
Mareice Kaiser hat es in ihrem Buch „Wie viel: Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht“ eindrucksvoll dokumentiert.
Ich mag das Spiel von Sich-bei-Medienhäusern-anbiedern-und-sich-aufplustern nicht mehr mitspielen. Ich kann und mag dafür meine Gesundheit nicht mehr opfern.
Daher mache ich Klassenarbeit einfach selbst, alleine, ohne Partnerschaften, ohne Backing, ohne Bezahlung (soweit. Geldgeber*innen, holla at me).
Mit den Erfahrungen, die ich gemacht habe. Zum ersten Mal bin ich freie Journalistin nicht wegen oben genannten Umständen, sondern aus meiner Entscheidung heraus. Und dabei habe ich ganz viel Glück und Support durch Netzwerke erhalten.
Ich möchte nun denen zuhören und eine Stimme geben, die das Glück und Netzwerk nicht haben. In Abhängigkeiten sind, bleiben, bleiben werden.
Wir müssen soziale Ungerechtigkeit stärker adressieren.
Davon hängt der Zusammenhalt der Gesellschaft und unsere Demokratie ab.
Danke für's Lesen.